Das Bundesgericht beurteilte folgenden Fall: In Baselland betreibt ein Wohnheim für Erwachsene mit einer Behinderung für die Erbringung von pflegerischen Leistungen an die Bewohner:innen eine eigene Spitex, die als Organisation der Krankenpflege und Hilfe zu Hause anerkannt ist. Die Krankenversicherung wollte für die erbrachten Leistungen nur den tieferen Pflegeheimtarif entgelten und vertrat den Standpunkt, dass Spitex-Leistungen in einem Wohnheim für Menschen mit Behinderung nicht als «Pflege zu Hause» zu verstehen seien.
Der KVG-Tarif für ambulante Leistungen gilt auch für Wohnformen wie Wohnheim, Seniorenresidenz oder betreutes Wohnen
Das Bundesgericht hat in seinem Entscheid festgehalten, dass «die ambulante Versorgung im Rahmen verschiedener Wohnformen möglich ist, solange sich diese ausserhalb eines zugelassenen Pflegeheimes bewegen. Mit anderen Worten kann eine ambulante Versorgung auch stattfinden, wenn die pflegebedürftige Person ihr Zuhause nicht in privaten Räumen (einem Haus oder einer Wohnung) hat, sondern beispielsweise in einem Behindertenheim.» (BGE 29.05.24, Seite 5).
Das bedeutet, dass Leistungen einer zugelassenen Spitex-Organisation an pflegebedürftige Personen in einem Wohnheim für Menschen mit Behinderung, das nicht auf der kantonalen Pflegeheimliste aufgeführt ist, nach dem Tarif für ambulante Leistungserbringer zu vergüten sind. Der Tarif kommt auch dann zur Anwendung, wenn die Bewohner:innen Pflegeleistungen von einer hauseigenen Spitex-Organisation erhalten. Diese sogenannte «In-House-Pflege», welche oft in Einrichtungen für betreutes Wohnen, Seniorenresidenzen oder Alterssiedlungen angeboten wird, ist der ambulanten Krankenpflege zuzuordnen und kassenpflichtig, sofern sie von einer zugelassenen Spitex-Organisation erbracht wird.
Kantonale Beiträge sind subsidiär zu Leistungen der Sozialversicherungen
Zum Verhältnis von Beiträgen der kantonalen Behindertenhilfe und den Vergütungen der Krankenversicherer für pflegerische Leistungen verweist das Bundesgericht auf das Behindertengesetz des Kantons, das den Vollzug des IFEG regelt. Im Gesetz ist explizit festgehalten, dass die Leistungen der Behindertenhilfe subsidiär zu zweckbestimmten Leistungen der Sozialversicherungen finanziert werden. Das bedeutet, dass pflegerische Leistungen somit von den Krankenversicherungen zu finanzieren sind, auch wenn eine Person mit Behinderung Leistungen bezieht, welche aufgrund des behinderungsbedingten Bedarfs durch den Kanton finanziert werden.
Das Bundesgericht hält dazu fest, dass die Krankenversicherung die Pflegeleistungen an eine Person mit Behinderung zu übernehmen hat, egal ob diese in einem Wohnheim erbracht werden, das auf der Pflegeheimliste steht, oder durch eine anerkannte Spitex-Organisation. Andernfalls würde es darauf hinauslaufen, dass für Menschen mit Behinderung in Wohnheimen eine andere Praxis zur Anwendung käme als für alle anderen pflegebedürftigen Personen. Dies würde gegen das in der Bundesverfassung verankerte Diskriminierungsverbot verstossen.
Richtungsweisendes Urteil
ARTISET und die Branchenverbände INSOS und YOUVITA begrüssen das Urteil des Bundesgerichts ausdrücklich. Der Bundesgerichtsentscheid eröffnet Dienstleistern für Menschen mit Behinderung mit Pflegebedarf eine Alternative zur Aufnahme der gesamten Institution auf die Pflegeheimliste. In vielen Fällen dürfte dies eine angemessenere und administrativ leichtere Lösung ermöglichen.
Bundesgerichtsentscheid vom 29. Mai 2024 (nur in deutscher Sprache publiziert)