Behinderung und Demenz

Menschen mit einer geistigen Behinderung

Einleitung und Forschungsstand

Der medizinische Fortschritt, die veränderte Ernährung sowie der bessere Zugang zu medizinischen Hilfen ermöglichen eine steigende Lebenserwartung auch von Menschen mit einer geistigen Behinderung. Der Unterschied beträgt heute noch zehn Jahre im Vergleich zur restlichen Bevölkerung. Damit steigt auch für diese Bevölkerungsgruppe das Risiko einer Demenzerkrankung.

Bei Menschen mit einer geistigen und zum Teil auch psychischen Behinderung lässt sich die Differenzialdiagnose meistens nicht durchführen. In der Folge kommt es zu Fehldiagnosen, oder es wird oft gar keine Diagnose erstellt. Verändertes Verhalten wird zwar registriert und dokumentiert, an den möglichen Zusammenhang zwischen der Verhaltensänderung und einer Demenzerkrankung wird aber häufig nicht gedacht.

Eine internationale, länderspezifische Recherche zum Forschungsstand (Grunwald et al., 2013) zeigt auf, dass sich für die Schweiz so gut wie keine spezifischen Informationen zur Begleitung von Menschen mit einer geistigen Behinderung und einer Demenzkrankheit finden lassen. Der Schwerpunkt der Diskussion richtet sich eher auf die allgemeine Versorgung alter Menschen mit Behinderung.

Generell setzen sich erst wenige Fachleute mit Demenzkrankheiten bei Menschen mit einer kognitiven Behinderung und den daraus resultierenden Anforderungen an angemessene Wohn- und Begleitformen auseinander. Es gibt jedoch einige Institutionen in der Behindertenhilfe, welche über Angebote zur Begleitung von Menschen mit einer geistigen Behinderung und Demenz verfügen oder diese am Entwickeln sind (siehe dazu Demenzbox «Beispiele aus der Praxis»)

Erste spezifische Erkenntnisse

In jüngster Zeit zeigen sich erstmals spezifische Erkenntnisse zu Demenzerkrankungen bei Menschen mit einer geistigen Behinderung, vor allem zu den folgenden Aspekten:

  • Prävalenz
  • Demenzsymptome, vor allem bei Menschen mit Downsyndrom
  • Diagnostik und Assessments

Einigkeit besteht darin, dass sich die Bemühungen um eine angemessene Begleitung an denselben Grundlagen und ethischen Grundwerten zu orientieren haben, wie dies bei anderen Menschen der Fall ist. Hinzu kommen für die Arbeit mit Menschen mit einer Behinderung weitere Grundlagen wie die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), Inklusion, Normalisierung, Empowerment, Sozialraumorientierung, Lebensqualitätskonzeption, funktionale Gesundheit etc.

Bei den milieutherapeutischen Aspekten, sowohl in räumlicher wie sozial- und heilpädagogischer Hinsicht, gibt es hingegen aktuell kaum Ansätze und Modelle, die speziell auf Menschen mit geistiger Behinderung und einer Demenzerkrankung eingehen. Mehrere Autorinnen und Autoren betonen allerdings, dass sich die wichtigen milieutherapeutischen Ansätze in der Begleitung, Betreuung und Pflege von Menschen mit einer Demenzerkrankung auch für den Umgang mit Menschen mit einer geistigen Behinderung oder psychischen Beeinträchtigung einsetzen und/oder adaptieren lassen.

Bedeutung der vertrauten Umgebung
Verschiedene Autorinnen und Autoren betonen die Wichtigkeit, dass Menschen mit einer geistigen Behinderung auch beim Auftreten einer Demenzkrankheit in ihrer vertrauten Umgebung verbleiben können. Entsprechend zentral sind die zusätzlichen Qualifikationen der Mitarbeitenden von bestehenden Teams in den Institutionen, die Menschen mit einer geistigen oder psychischen Beeinträchtigung begleiten.

Viele Menschen mit einer geistigen Behinderung nutzen institutionelle kollektive Wohnformen. Viele Institutionen im Behindertenbereich diversifizieren allerdings ihre Wohnangebote so, dass Menschen mit einer geistigen oder psychischen Behinderung zunehmend auch andere, selbstbestimmtere Wohnformen nutzen können.

Nebst den speziellen Wohngruppen für Menschen mit geistiger Behinderung und Demenz gibt es auch das Modell, dass Betroffene möglichst lange an ihrem angestammten Wohnort (integrativer Ansatz) bleiben können. Es wird festgestellt, dass die Mitbewohnenden zum Teil verständnisvoll auf die Erkrankung reagieren und Wert auf das Zusammenbleiben legen. Trotzdem kann dieses integrative Zusammenleben in den Wohngruppen aufgrund der unerklärlich erscheinenden Verhaltensveränderungen der Erkrankten zum Teil zu massiven Konfliktsituationen führen. Die Vermittlung von Wissen über die Krankheit Demenz und ihre Begleiterscheinungen ist denn auch für die Kollegen und Kolleginnen der Wohngemeinschaft wichtig und führt zu einer Verbesserung der Umgangsformen und der Lebensqualität aller Beteiligten. Aktuell fehlen noch geeignete, unterstützende Unterlagen zum Thema Demenz in leichter Sprache und mit geeigneten Bildern.

 Menschen mit Seh-/Hörsehbeeinträchtigungen

Die wechselseitige Beeinflussung von Demenzerkrankungen sowie Seh- und Hörsehbeeinträchtigungen stellt besondere Anforderungen an die Pflege und Betreuung. Die Beeinflussung kann drei verschiedene Formen annehmen:

  1. Im Verlauf einer Demenzerkrankung können altersbedingte und/oder krankheitsbedingte Sehbeeinträchtigungen auftreten oder sich allenfalls verstärken und verändern.
  2. Menschen mit einer angeborenen oder erworbenen Sehbeeinträchtigung können im Alter zusätzlich an Demenz erkranken.
  3. Eine Sehbeeinträchtigung und eine Demenzerkrankung können ähnliche Symptome aufweisen, was zu Verwechslungen der beiden Krankheiten und Fehleinschätzungen führen kann.

Um eine adäquate Begleitung und Unterstützung sicherzustellen, sind die Symptome im Verlauf eines diagnostischen Prozesses so klar wie möglich dem jeweils verursachenden Krankheitsbild zuzuordnen. Das ist nicht einfach. Eine angemessene Diagnostik und eine entsprechend erfolgreiche Behandlung vorhandener Sehbeeinträchtigungen bei Menschen mit einer Demenzerkrankung gibt es heute noch kaum. Viele Diagnoseinstrumente setzen ein intaktes Sehvermögen voraus (z.B. Syndrom-Kurz-Test [SKT], einige Subtests aus dem Mini-Mental-Status-Test).

Verschiedentlich wird versucht, der Sehbehinderung in den Tests Rechnung zu tragen. Allerdings gibt es zurzeit noch keine valable Überprüfung dieser Testversionen, bei denen entweder ausschliesslich die visuell abhängigen Items weggelassen wurden oder diese durch visuell veränderte oder visuell unabhängige haptische (tastende) oder auditive (hörende) Items ersetzt wurden.

Eine besondere Herausforderung für die Begleitung von Menschen mit einer Demenz und einer Seh-/Hörsehbeeinträchtigung besteht in der Schaffung eines angemessenen Milieus für diese Komorbidität. Zentrale Faktoren sind dabei die Berücksichtigung und das Einbeziehen der intakten Sinne, also des Gehör-, Tast-, Geschmacks- und Geruchssinns.