05.07.2021

ISTANBUL KONVENTION | Menschen mit Behinderung müssen berücksichtigt werden

Die Istanbul Konvention will Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt verhüten und bekämpfen. Wie gross der Handlungsbedarf dazu in Schweiz noch ist, zeigt der neue Bericht des «Netzwerks Istanbul Konvention». Mitgewirkt haben rund 100 Organisationen, darunter auch die verbandsübergreifende Arbeitsgruppe Prävention (VüAG).

Am 5. Juli 2021 übergibt das Netzwerk Istanbul-Konvention den Alternativbericht an GREVIO und an das EBG. Damit markiert das Netzwerk den bis dato wichtigsten Meilenstein seit seiner Gründung.

Zum Netzwerk gehört auch die verbandsübergreifende Arbeitsgruppe Prävention, bei der INSOS Mitglied ist. Die Arbeitsgruppe hat ergänzend zum Alternativbericht einen Vertiefungsbericht mit Fokus Behinderung erarbeitet.

Der Bericht stellt Menschen in den Mittelpunkt, die für die Bewältigung ihres Alltags stark auf die Unterstützung und Begleitung von anderen Personen angewiesen und damit von ihnen abhängig sind. In 60 Forderungen wird auf den dringlichen Handlungsbedarf für diesen Personenkreis hingewiesen. Die zentralen Aussagen des Vertiefungsberichts sind:

  • Die Umsetzung der Istanbul-Konvention muss den spezifischen Lebensrealitäten von Frauen (und Männern) mit Behinderung Rechnung tragen. Frauen (und Männer) mit Behinderung sind in erhöhtem Masse struktureller Gewalt ausgesetzt. Durch den Unterstützungsbedarf können sie sich bisweilen lebenslang in einem asymmetrischen Beziehungsverhältnis zu den Personen, die sie begleiten und betreuen, befinden. Diese Abhängigkeit erhöht das Risiko, dass diese Menschen Opfer von Gewalt werden. Strukturelle Gewalt zeigt sich aber auch in dem Ausschluss von Menschen mit Behinderung von vielen gesellschaftlichen Einrichtungen, Aktivitäten und Informationen.
  • Die Definition «häuslicher Gewalt» muss um die Dimension des «sozialen Nahraums» erweitert werden. Viele Frauen (und Männer) mit Behinderung leben in einer institutionellen Wohnform oder nehmen im Privathaushalt Unterstützungsleistungen in Anspruch. Eine Definition von «häuslicher Gewalt» mit Fokus auf familiäre Beziehungen greift daher zu kurz. Die Istanbul-Konvention muss stattdessen den «sozialen Nahraum» als Lebensmittelpunkt einer Person und alle damit verbundenen Beziehungen einschliessen.
  • Die Datenlage zur Gewalt an Frauen (und Männern) mit Behinderung muss verbessert werden. Aktuell können keine verlässlichen und differenzierten Angaben gemacht werden, wie stark Frauen (und Männer) mit Behinderung in der Schweiz von Gewalt betroffen und/oder bedroht sind. Doch Studien aus dem Ausland bestätigen eine überdurchschnittlich hohe Gewaltbetroffenheit von Frauen mit Behinderung.
  • Der Zugang zu allen Präventions-, Beratungs- und Schutzangeboten muss für Frauen (und Männer) mit Behinderung gewährleistet sein. Frauen (und Männer) mit Behinderung werden weder in den Strategien von Bund und Kantonen zur Bekämpfung und Verhütung von Gewalt noch bei der Planung und Umsetzung von Massnahmen berücksichtigt. In der Folge bleibt ihnen der Zugang zu dringend benötigten Angeboten und Dienstleistungen verwehrt.

Hinweis zur Schreibweise: Menschen mit Behinderung werden unabhängig ihres Geschlechts nicht ausreichend im gesellschaftlichen Fokus der Gewaltprävention berücksichtigt. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, verwendet die VüAG in ihrem Vertiefungsbericht die Schreibweise Frauen (und Männer) mit Behinderung, wenn sich der Kontext nicht explizit nur auf Frauen mit Behinderung bezieht.

Vertiefungsbericht der verbandsübergreifenden Arbeitsgruppe Prävention
Initialstaatenbericht der Schweiz
Alternativbericht des Netzwerks Istanbul-Konvention
Website Netzwerk Istanbul-Konvention
Medienmitteilung Netzwerk Istanbul-Konvention
Website Charta Prävention

Wie wird die Umsetzung der Istanbul-Konvention überprüft?

Das Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, auch bekannt als Istanbul-Konvention, wurde 2011 durch den Europarat verabschiedet. Ziel des Übereinkommens ist es, geschlechtsspezifische und familiäre Gewalt an ihren Wurzeln zu bekämpfen und die Rechte der Gewaltbetroffenen auf Unterstützung und Schutz durchzusetzen.

Die Schweiz trat der Istanbul-Konvention 2017 bei und setzte sie am 1. April 2018 in Kraft. Als Vertragsstaat erkennt die Schweiz an, dass ungleiche Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern eine zentrale Ursache von Gewalt gegen Frauen sind und dass Geschlechterhierarchien durch Gewalt aufrechterhalten werden.

Die Umsetzung der Istanbul-Konvention durch die Vertragsstaaten wird von der unabhängigen Expertengruppe GREVIO (Group of Experts on Action against Violence against Women and Domestic Violence) kontrolliert. Als Grundlage für dieses Monitoring dient zum einen der am 18. Juni 2021 durch den Bundesrat veröffentlichte erste Staatenbericht der Schweiz und zum anderen ein «Alternativbericht» der Zivilgesellschaft. Für letzteren ist in der Schweiz das Netzwerk Istanbul-Konvention, bestehend aus rund 100 NGOs, Fachstellen und anderen zivilgesellschaftlichen Akteur:innen, verantwortlich. Der Alternativbericht besteht aus einem gemeinsamen Hauptbericht sowie ergänzenden Vertiefungsberichten der einzelnen Mitglieder. Diese Gliederung erlaubt sowohl das Zusammenfassen der wichtigsten gemeinsamen Forderungen als auch die differenzierte Darstellung spezifischer Anliegen.

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